Seitdem ich weiß, daß ein sehr lieber Freund diese Augenkrankheit hat, habe auch ich auf dem rechten Auge so einen Druck und ein Jucken. Immer wieder gucke ich, ob es das Sehen beeintächtigt, kann aber nichts entdecken. Trotzdem kommt ja irgendwann der Punkt, da denkt man darüber nach zum Arzt zu gehen. Nicht wirklich freiwillig, was weniger daran liegt, daß man Ärzte nicht mag, aber die Wartezeit ist bei mir immer Grund genug zu stöhnen. Seis drum, nach etwa drei Tagen dieser Augen-Probleme, erinnere ich mich, daß ich etwas Ähnliches schon vor einem Jahr hatte (später erfahre ich daß es bereits zwei Jahre her ist und fühle mich noch älter) und zur Augenärztin nach St. Hubert gegangen bin. Daß ich alt werde, kann man auch daran erkennen, daß ich mich nicht an den Namen der Ärztin erinnere und auch nicht an die Praxis. Also rufe ich bei der AOK an und frage nach. „In St. Hubert gibt es gar keinen Augenarzt“, sagte man mir. Bingo! dachte ich und stellte mit Erschrecken fest, daß ich nicht nur mein Gedächnis für Namen, sondern auch für Orte verliere. Ich dachte noch mal nach, stellte mir die Straße vor und mir kam die Idee, daß es in Tönisvorst (etwa 10km von hier) gewesen sein muß. Schon damals wußte ich, daß es keinen Sinn hatte, einen Kempener Augenarzt aufzusuchen. Die haben in den letzten Monaten des Jahres gar keinen Bedarf mehr für Pflichtversicherte. Mit der Information des Ortes und dem Telefonbuch habe ich dann die Praxis herausgefunden und gleich in Outlook eingetragen. Mein Gedächnis braucht Unterstützung.

Als ich anrufe erfahre ich das Unvermeidliche: „Bringen Sie Zeit mit“. Ich habe auch nach Jahren der Recherche nicht wirklich herausgefunden wie man das macht, schließlich läßt sich so was ja nicht in Hosentaschen packen, aber ich wußte was gemeint war. „Pack ein Buch ein!“ dachte ich bei mir. Und da ich immer wieder das eine empfehle, war es naheliegend, einmal über das Zweitlesen von Peter Wilhelm´s „Zum Hieressen oder Mitnehmen“ nachzudenken. Gesagt getan. Adresse der Praxis ausdrucken, hinfahren, 10 Euro, Versichertenkarte, „Guten Morgen“, Platz suchen. Mann ist der Stuhl durchgesessen! Und so eng an dem anderen, daß man automatisch versucht möglichst zwei Stühle Platz zwischen sich und dem Nächsten zu lassen. Das klappt natürlich nur bedingt, denn gleich als nächstes setzt sich jemand direkt neben mich. Ein richtiger breiter Kerl, so ein Bauer wie man ihn hier oft am Niederrhein trifft. Wortkarg, vermeintlich unhöflich (die mangelnde Etikette ist angeboren und nicht immer bös gemeint) und vor allem gut gebaut. So eine halbe Wurst wie mich drückt er halb vom Stuhl. Ich bin aber gerade bei meiner Lieblingsgeschichte von Peter Wilhelm´s zeitlosem Werk (Kapitel 6) und pruste los. Nicht nur daß mein laut knurrender Magen die Menschen in dem Wartezimmer irritierte (sowas ist mir ja nicht peinlich), auch scheinen sie durchaus sofort so etwas wie Neid zu empfinden, da ich mich königlich amüsiere, als mein Namensvetter im Buch beschreibt, wie er seine nicht zu gewinnende Wette verliert. Die Nachbarn im Zimmer gucken alle reichlich belämmert daß ihre „Frau im Bild“ das nicht hergibt.

Auch bei mir stellt sich kurz darauf so etwas kleines Niedliches wie Neid ein, als vier Menschen, die allesamt nach mir in die Praxis kamen, vor mir zu Frau Doktor dürfen. Ich spiele kurz mit dem Gedanken mich zu verabschieden, aber ich denke: Gut, die hatten allesamt Termine und Du hattest keinen. Also verharre ich mit der einen Pobacke auf dem sehr durchgesessenen Stuhl, der vor Tierchen sicher wimmelt und frage mich ganz kurz, warum Ärzte immer genug Geld für dicke Autos, aber nie für die Wartezimmer haben. Sicher weil sie nicht selbst drin sitzen. Mittlerweile sitzen aber ungefähr 20 andere Leute drin, während sich vorne vor der Rezeption so viele neue Augengeschädigte einfinden, daß der Nächste die Türe von außen nicht mehr aufbekommt, um hereinzukommen. Ich habs da richtig gut auf meinem halben Stuhl.

Meine aufrechte Haltung verlassend, beuge ich mich mit den Ellebogen auf die Knie, um weiterzulesen. Wer mich nicht kennt, der weiß nicht was passiert, wenn ich mich mal richtig amüsiere. Ich bin dann nicht mehr zu halten. Mein Bildnis für diesen Zustand lautet: „Ich rolle unter dem Sofa herum.“. Hier ist kein Sofa weit und breit, also pruste ich nur kurz los und alle gucken wieder so komisch zu mir rüber. Das irritiert mich keinesfalls. Es ist das gleiche neu-Gierige Gucken wie bei einem Unfall. Auch da tut keiner was, sondern gafft nur. Ich versuche derweil zu verhindern, daß mein Prusten nicht zu einem Dauerprusten wird. Das endete in meiner Schulzeit mal mit einer Wartezeit vor der Klassenzimmertüre. Jetzt wo man vermeintlich erwachsen ist, versucht man solche Situationen zu vermeiden – ich stelle mir vor, ich verliere meinen halben Stuhl.
Jetzt kommt eine Arzthelferin herein und träufelt ein paar Tropfen in das Auge meiner übernächsten Nachbarin. Die nimmt es gelassen. Ich muß kurzzeitig in die aufrechte Sitzposition auf einer Pobacke zurück, weil sie sonst nicht zwischen den vielen Wartenden und dem uralten Tisch mit Omazeitschriften durchkommt. Das stört mich nur minder, denn ich lese gerade die Stelle wo der Bus Endstation macht und stelle mir Peter Wilhelm in Stöckelschuhen vor. Obwohl die Stöckelschuhe vielleicht nicht so interessant sind wie das Gesamtbild, welches jetzt durch die Hauptstraße nach Hause muß. Jedenfalls wenden sich wieder alle Blicke zu mir und ich werde fast gleichzeitig aufgerufen. Wie man meinen Namen so falsch aussprechen kann ist mir ein Rätsel. Das wäre im Ruhrgebiet sicher nicht passiert. Das schaffen nur die Menschen am Niederrhein. Ich nehme mein Buch und mein halber Po ist sichtlich erleichtert, daß er Bewegung bekommt. Allerdings nicht lange, denn im Behandlungszimmer ist wieder Sitzen und Warten angesagt. Diesmal auf einem runden Hocker, in einem Zimmer, was bei privater Nutzung die Küche wäre. Langsam dämmert es mir: ich habe mit dem halben Po im Schlafzimmer gesessen. Vorne im Empfang ist die Diele und Frau Doktor hat drei Behandlungszimmer: ein Wohzimmer, eine Küche und ein Gästezimmer oder Büro. Die Küche in der ich sitze hat diesen Rundhocker auf dem man nicht mal wippen kann. Also leidet jetzt auch meine zweite Pohälfte, aber ich habe ja das Buch. Was wäre die Welt ohne diesen Autor?

Dann kommt Frau Doktor. Die Behandlung ist in wenigen Minuten routinemäßig abgeschlossen. Ich bekomme etwas aufgeschrieben und einen Händedruck. Das wars. Auf meine vorsichtige Nachfrage, daß ich jetzt älter werde und zunehmend schlechter lesen kann, sagt mir Frau Doktor daß sie das nur in dem Wohnzimmer prüfen könne (man darf annehmen, daß das besetzt ist) und ich sowieso keinen Pfennig von der AOK dazu bekomme. Also möge ich sofort einen Optiker aufsuchen. Ich darf gehen, denke ich! Nein, erst muß das Rezept gedruckt werden. „Bitte setzen Sie sich nochmal ins Wartezimmer.“. Der Agrarökonom ist inzwischen auf einem anderen Platz und ich setze mich mit beiden Hälften auf denselben durchgesessenen Stuhl. Ekelhafter Weise ist der auch noch warm, aber seis drum. Kurz spiele ich mit dem Gedanken im Stehen zu lesen und loszuprusten, aber dann kommt schon die Nachricht, daß ich das Rezept holen darf. Die Helferin klärt mich auf, daß ich mir was Durchlesen möchte „Eine Igelleistung.“. Kurzzeitig denke ich über meine Haare nach, dann erklärt sie mir, daß es eine Leistung sei, die ich selber bezahlen muß. Das ist nichts Neues für mich denke ich. Aber Igelleistung? Woher kommt denn das Wort? Dann denke ich drüber nach, welche Zweiklassengesellschaft wir in Deutschland in der Krankenversorgung haben und bin froh, daß ich wenigstens für die ganz schlimmen Fälle eine Zusatzversicherung abgeschlossen habe. Beim Rausgehen höre ich noch auf Niederrheinisch (das ist ein sehr ländlicher Akzent) die Krankengeschichte einer mir unbekannten Dame im Flur. „Ich habe das Handy nicht mitgehabt und konnte nicht hier anrufen, weil ich die Nummer nicht hatte.“ Danach gleich die gesamte Krankengeschichte. Ich habe mich aber nicht dazugestellt und weiter zugehört, sondern bin raus und konnte wieder frische Luft atmen. Natürlich waren im Wartezimmer alle Fenster geschlossen. Das ist immer so, weil der Mensch das braucht: Wartezeiten, durchgesessene Stühle, schlechte Luft und nette Menschen mit guten Geschichten.

Ich hole mir die Augentropfen und stelle fest, daß ich den Beipackzettel kaum lesen kann. Warum man ausgerechnet bei Augentropfen so kleine Schrift nimmt bleibt mir schleierhaft. Jedenfalls benötige ich dringend eine Lesebrille, woraus man erkennen kann, daß ich alt werde. Und bitte keine Kommentare über meinen Bauchumfang und mein Alter!

P.S.: Das Buch ist klasse und sie bekommen es….

Beim Arzt

2 Kommentare zu “Beim Arzt

  1. Holger Ehrlich

    Das Buch habe ich schon, und Deine Augenärztin lügt!
    Erst kürlich habe ich bei der AOK angefragt ob die Visuskontrolle eine versicherte Leistung sei. „Selbstverständlich“ war die Antwort!

  2. Sein Visus ist ja auch ganz in Ordnung, der sieht bloß schlecht :-)

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